Eine mystische Krankheit?

Das Fibromyalgie-Syndrom ist eine Krankheit, die viele Mythen heraufbeschworen hat. Die Symptome des Fibromyalgie-Syndroms sind für andere Leute unsichtbar oder kaum wahrnehmbar. Aber die eigene Familie oder Menschen, mit denen wir ständig zusammen sind, merken schon was mit uns los ist – oder doch nicht?

Oft nicht. Wir haben alle so viele Gedanken im Kopf und arbeiten eine pausenlose To-do-Liste im Geiste ab. Dabei entgeht uns tatsächlich sehr viel. Den Menschen um uns herum geht es genauso. Was man nicht selbst erlebt hat, ist schwer vorzustellen, das kennen wir alle. Sie wissen nicht, wie es sich anfühlt. Ich sage manchmal morgens zu meinem Mann, ich fühle mich als wäre ein Bulldozer über mich gerollt. Es ist klar was damit gemeint ist: plattgedrückt, alles schmerzt, die Luft ist raus… Noch einfacher finde ich es, etwas vorzustellen, wenn Beispiele benutzt werden, die ich aus meinem Alltagsleben kenne. Wenn du ein Bild im Kopf hast, wie etwas sein könnte, dann kannst du es dir vorstellen oder?


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Wie fühlt sich Fibromyalgie für dich an?x

Wie in dem Beitrag https://shamethepain.de/was-ist-fibromyalgie/ erklärt, hängt das Fibromyalgie-Syndrom mit dem zentralen Nervensystem zusammen und beeinflusst alle Körperteile und -Funktionen wie

  • den Energiehaushalt
  • den Schlafrhythmus
  • die Verdauung
  • das Schmerzempfinden
  • die Sinne – schmecken, riechen, hören.

Das Fibromyalgie-Syndrom steht dir anders als mir

Das Fibromyalgie-Syndrom zeigt sich bei jedem Betroffenen anders. Das trifft für viele Krankheiten zu, denn wir sind alle verschieden.

  • die Besiedlung des Darms mit Bakterien ist bei jedem Menschen etwas anders,
  • wir verarbeiten unsere Nahrung unterschiedlich
  • wir haben unterschiedliche Lebensgewohnheiten
  • die Einflussfaktoren in unseren Leben sind unterschiedlich.

Da ist es eine logische Folge, dass wir die Krankheit individuell anders in unserem Körper spüren.

Der Ansatz, den Patienten individuell zu betrachten, setzt sich nur langsam durch. In vielen Köpfen ist noch die Vorstellung verhaftet, dass Krankheiten bei jedem Menschen gleich ablaufen. Ein aktuelles Gegenbeispiel ist das Virus COVID-19, das eine Bandbreite von Verläufen von keinen Symptomen bis tödlich haben kann.

Für einige unserer Mitmenschen ist es schwer zu glauben, wir haben eine Krankheit, die wir nicht genau beschreiben können, und die sich nicht bei jedem in gleicher Weise zeigt.

Diese Person befindet sich im Defekt-Modus

Akute Schmerzen warnen und signalisieren, dass etwas nicht in Ordnung ist. Unsere Körper sind nicht dafür gemacht, im dauerhaften Defekt-Modus zu arbeiten.

Diese Person befindet sich im Shut-Down-Modus

Früher lud ich gerne Freunde zu mir ein und kochte für sie. Ich stelle mir vor, ich lade zwanzig Leute ein. Zwei Freundinnen sagen zu, früher zu kommen, um mir zu helfen. Ich bin zuversichtlich mit ihrer Hilfe alles hinzubekommen.  Am Ende sieht es anders aus.  Beide Freundinnen sagen unabhängig voneinander ab und denken vermutlich, die andere wird schon helfen. Und jetzt der Supergau – ein Freund postet eine Einladung zum Fest auf einem social media Portal. Es kommen über hundert Leute. Stell dir das vor! Ich fühle mich jetzt schon erschlagen und es ist nichts passiert.

Genauso funktionieren die Schmerzmeldungen beim Fibromyalgie-Syndrom. Zu viele Signale kommen im Gehirn an (Gäste). Das bedeutet, dass vor lauter Unübersichtlichkeit, eine Berührung schon als Schmerz ankommt. Die Schmerzsignale werden durch
Seratonin (einen Botenstoff) verarbeitet. Davon haben Menschen mit Fibromyalgie zu wenig. (Es kamen keine Freundinnen zum Helfen.) Wir sind allein.
Wir werden mit der Arbeit nicht fertig. Deshalb haben wir auch Schmerzen da, wo keine Schädigungen sind. Es sind nicht eingebildete Schmerzen. Es sind falsch interpretierte Reize, die das Gehirn und das zentrale Nervensystem als Schmerzen melden. (Zu viele uneingeladene Gäste). Wenn das Gehirn sagt du hast Schmerzen – dann ist das für deinen Körper so!

Dieses Zuviel erleben wir auch in anderer Form. Andere Stoffe im Gehirn führen dazu, dass unsere Sinne überfordert
werden.

  • das kleinste Geräusch empfinden wir als störend bis nicht auszuhalten,
  • subtile Gerüche nehmen wir sensibel wahr, und empfinden sie als unangenehm,
  • Licht kann zu viel sein, so dass wir Rollläden zumindest zum Teil herunterlassen oder Vorhänge schließen.


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Wenn wir eine Überfrachtung der Sinneseindrücke zusätzlich zum erhöhten Schmerzempfinden erleben, kann das zum Absturz führen, wie bei einem PC, wenn wir zu viele Tasten gedrückt haben. Das kann sich als massive Erschöpfung, Angst, Depression oder Panik äußern.

Willst du mit mir Achterbahn fahren?

Bei vielen chronischen Krankheiten ist der Verlauf progredient. Das heißt, die Krankheit verschlimmert sich stetig. Im besten Falle, bei unheilbaren Krankheiten, stagniert sie. Einige Menschen, die an dem Fibromyalgie-Syndrom leiden, haben auch Phasen, in denen sie kaum oder keine Schmerzen haben und kaum oder keine Symptome haben. Es kann sein, dass ein(e) Betroffene(r) sich an einem Tag vollkommen zurückzieht, weil er/sie starke Schmerzen hat und am anderen Tag mehrere Aufgaben scheinbar mühelos erledigen kann.

Wir Frauen kennen eine vergleichbare Situation, weil unser Hormonhaushalt Schwankungen unterworfen ist. Das kann zu extremer Müdigkeit, Gereiztheit, Schmerzen usw. führen. Möglicherweise erleben Männer auch solche Schwankungen.

Ähnliche oder noch extremere Schwankungen können manche Fibromyalgie-Syndrom-Betroffene erleben.

Was mache ich, wenn der Tiger kommt?

Stress – das Wort ist in den letzten Jahren überstrapaziert gewesen. Das bedeutet, dass manche die Hände über dem Kopf
zusammenschlagen, wenn sie hören, jemand sei gestresst.

Alle Menschen reagieren sowohl auf emotionalen, als auch auf physischen Stress. Eine übliche Reaktion auf physischen Stress ist ein Hochrauschen von Adrenalin und anderen Botenstoffen und Hormonen. Das verursacht eine Art Kick-Down, sodass wir schnell und effizient agieren. Fibromyalgie-Betroffene haben nicht genug dieser Hormonen und Botenstoffen und
können deshalb nicht angemessen reagieren. Es kommt zur Überforderung, und Symptome treten verstärkt auf.

Wenn wir über Stress reden, meinen wir heutzutage eher emotionaler Stress. Mit dem Säbelzahntiger haben wir nicht mehr so viel zu tun. Ganz aktuell können die Auswirkungen von Corona auf das Arbeits- und Privatleben emotionalen Stress verursachen.

  • Konflikte bei der Arbeit sein, z.B. Kündigungen,
  • Überforderung durch Arbeiten und Kinderbetreuung zu Hause,
  • Überforderung durch den Umgang mit Erkrankten und unzureichende Schutz- und Hilfsmittel, um diese Arbeit effektiv zu erledigen.

Diese emotionalen Überforderungen können unter anderem auch zu

  • Schlafdefizit
  • schlechter Ernährung
  • mangelnder Bewegung und Ausgleich

führen. Zustände, die sich wiederum auswirken wie emotionaler Stress.

So gesehen, können nicht nur die Langzeitfolgen einer Corona-Infektion Symptome hervorrufen, die vergleichbar mit dem Fibromyalgie-Syndrom oder das Chronische Müdigkeitssyndrom sind, sondern die unmittelbare Pflege von Erkrankten ebenso.

Und wenn du dir vorstellst, diese Überforderung dauere Monate oder Jahre lang…

Lösen wir uns von Corona-Folgen und stellen uns Alltagssituationen vor: Erinnerst du an eine Verkehrssituation, wobei es gerade noch gutging? Du hast die Vorfahrt missachtet, oder musstest einem anderen Auto ausweichen.
Erinnerst du dich an das Stressgefühl im Körper?

Stell dir vor, dieses Stressgefühl wäre dauerhaft. Mit dem Fibromyalgie-Syndrom fühlst du dich ständig gestresst.


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Mein Bett und ich haben uns auseinandergelebt

Fibromyalgie-Betroffene leiden unter Schlafstörungen. Das können

  • Ein- und Durchschlafstörungen
  • Schlafapnoe
  • Restless-Legs-Syndrom
  • Muskelanspannungen, die einen Tiefschlaf erschweren

sein.

Das bedeutet, wir fühlen uns nicht erholt, wenn wir aufwachen. Hinzu kommen andere Phänomene wie Blasenprobleme, die ein häufiges Aufstehen erzwingen, oder wir wachen wegen Schmerzen auf und finden keine Position, in der wir entspannt einschlafen können.

Wenn du Kinder hast, erinnerst du dich vielleicht an das erste Jahr, in dem Zeit zum Schlafen Luxus ist. Du bist die ganze Zeit auf Energiesparmodus herumgelaufen.

Mit dem Fibromyalgie-Syndrom bist du ständig im Energiesparmodus. Das heißt du bist da, aber nicht wirklich bei der Sache.

Nicht wirklich eine Krankheit für zartbesaitete

Hier sind noch ein paar Vergleiche um zu zeigen, wie es sich anfühlt:

Stell dir vor, du bleibst zwei oder drei Nächte hintereinander wach, um ein Projekt termingerecht fertigzustellen. Wie fühlst du dich danach? Mit zwei-drei Nächten guten Schlafes ist die Welt wahrscheinlich wieder in Ordnung, oder? Mit dem Fibromyalgie-Syndrom bleibt die bleierne Erschöpfung immer da.

Stell dir vor du schreibst eine To-do Liste mit zehn Aufgaben für den Tag. Davon suchst du drei bis vier Aufgaben aus, vielleicht schaffst du nur zwei. Wenn du mehr machst, kannst du in den nächsten zwei Tagen nichts machen. Wie fühlst du dich? Unzufrieden?

Stell dir vor du schaust auf deinem Kontoauszug und es fehlen 5.000 Euro. Für diese Buchung hast du keine Erklärung. Du vereinbarst einen Termin bei deiner Bank. Dein Sachbearbeiter findet keinen Fehler und verweist dich an einem anderen Berater, er macht das gleiche. Du verstehst nicht, warum niemand dir eine Erklärung für diese falsche Buchung geben kann. Noch schlimmer – außer dir, findet niemand, dass etwas nicht in Ordnung ist.

So geht es dir, wenn du an dem Fibromyalgie-Syndrom erkrankt bist und zum Arzt gehst. Es gibt für vieles keine Erklärung. Du wirst weiter verwiesen. Jeder findet keinen Fehler.

Diese Situation hat sich durch Aufklärung in den letzten zehn Jahren gebessert, aber es gibt noch Luft nach oben.

Es geht hier nicht darum zu jammern, sondern darum, manches verständlicher zu machen.

Viele Krankheiten betreffen einen Körperteil oder ein System im Körper. Das Fibromyalgie-Syndrom betrifft den ganzen Körper und kann bedeuten, dass viele Systeme nicht gut oder gar nicht laufen. Diese Krankheit, oft als schillernd oder mysteriös beschrieben, geht aus realen physischen Ursachen hervor.

Siehe Beitrag https://shamethepain.de/du-siehst-mich-nicht/

Das Fibromyalgie-Syndrom verkleidet sich nicht als:

  • Burnout oder Depression
  • Faulheit und Unlust
  • Jammerlappen

Sie ist das Ergebnis von Dysfunktionen einiger Systemen im Körper und im Gehirn, die schwer zu verstehen sind, schwer zu behandeln sind, und bis jetzt nicht behebbar sind.

Mitunter die schwerste Aufgabe für Fibromyalgie-Betroffene ist, herauszufinden wie sie individuell damit leben können. Eine Linderung der Symptome ist möglich. Verständnis und Hilfe ihrer Mitmenschen tragen dazu bei.

Unterstützung findest du auch in entsprechenden Gruppen und Communities auf Social Media.

 

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Quellen:

Al-Nimer, M. S. M. A., Mohammed, T. A. M. M. & Alsakeni, R. A. A. (2018, 23. August). Serum levels of serotonin as a biomarker of newly diagnosed fibromyalgia in women: Its relation to the platelet indices. www.jmsjournal.net. https://www.jmsjournal.net/article.asp?issn=1735-1995;year=2018;volume=23;issue=1;spage=71;epage=71;aulast=Al-Nimer

Rizzi, M. R., Cristiano, A. C., Frassanito, F. F., Malcaluso, C. M., Airoldi, A. A. & Sarzi-Puttini, P. S. (2016, 10. Februar). Sleep Disorders in Fibromyalgia Syndrome. www.omicsonline.org. https://www.omicsonline.org/open-access-pdfs/sleep-disorders-in-fibromyalgia-syndrome-2167-0846-1000232.pdf

Schertzinger, M. S., Wesson-Sides, K. W., Parkitny, L. P. & Younger, J. Y. (2017, 14. Dezember). Daily fluctuations of progesterone and testosterone are associated with fibromyalgia pain severity. www.ncbi.nlm.nih.gov. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6046191/

Sluka, K. A. S. & Clauw, D. J. C. (2016, 3. Dezember). Neurobiology of fibromyalgia and chronic widespread pain. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27291641/

Dellwo, A. D. (2020, 17. Januar). What’s Going On? Understanding Fibromyalgia. www.verywellhealth.com. https://www.verywellhealth.com/a-simple-explanation-of-fibromyalgia-716142

Bilder:

Photos by Jr Korpa and Mitchell Hollander on Unsplash