Gibt es in deinem Leben auch ein Wohlfühlort? Ein Ort wo du dich zurückziehen und in einer anderen Welt abtauchen kannst. Ein Ort wo du dich geborgen fühlst, wenn du dich einsam fühlst, wo es dir vielleicht manchmal gelingt Abstand von Schmerz und Pein zu gewinnen. Wenn nicht, dann ist es vielleicht Zeit, nach einem solchen Ort zu suchen oder ihn selbst zu kreieren. Manchen Menschen haben einen einzigen Wohlfühlort, andere haben mehrere, und für manche existiert er in der Fantasie. Wichtig ist, dass er ein gutes Gefühl auslöst, wenn du an den Ort denkst. Hier gibt es eine Entspannungsübung Wohlfühlort. Wenn du auf der Seite ganz herunterscrollst, kannst du die Übung anhören. Mein Wohlfühlort hat mit Büchern zu tun.
Eine andere Welt
Sie hatte nie beim Betreten eines Buchhandels in den Spiegel geschaut, aber sie war sich sicher, es war sichtbar. Als sie das Ladenschild, „Treffpunkt für Buchstaben“ las, breitete sich eine wohlige Wärme in ihr aus.
Sie machte eine Tür auf, und hinter sich wieder zu, aber das war nicht die Ladentür. Es war die Tür, hinter der sich die Welt ausbreitete, der sie entfliehen wollte.
Wie eine mollige Decke
Ihr Puls schlug langsamer, ihre Gesichtszüge entspannten sich und dann lief sie los. Zunächst ohne Ziel, mit leisen Schritten auf dem Teppichboden. Bloß niemanden stören. Ein Buchtitel regte ihr Interesse, sie nahm das Buch aus dem Regal, und setzte sich auf einen wunderbar bequemen Lesesessel hin. Es war ein Gefühl, als würde sie sich in einer molligen Decke vor dem Kaminfeuer einkuscheln. Sie schlug die erste Seite auf, nahm den Geruch von frisch gedrucktem Papier wahr. Das Buch hieß sie willkommen. Sie war zu Hause…
Eine neue Methode
„Was gab Ihnen das Gefühl zu Hause zu sein?“ Sie saß auf einem unbequemen Holzstuhl in der Praxis von Dr. Lamotte. An der Wand hing ein großes Bild mit Bleistiftzeichnungen, die sie zu entziffern versuchte. „Frau Lilly, hören Sie zu? Zu Hause? Ja ich habe Sie nach dem Ort gefragt, wo sie sich früher am wohlsten fühlten – ein Wohlfühlort?“ Das war leicht – „Die Bücherei in Middleton“. Sie sah dem Arzt an, dass er mit dieser Antwort nicht gerechnet hatte. Sie wollten heute eine neue Methode ausprobieren, um ihre Depressionen zu lindern, irgendwas mit Augenbewegungen.
Der Geruch nach alten Büchern
Ihr Wohlfühlort. Sie erinnerte sich. Sofort hörte sie das Knirschen der Holzdielen. Sie sah ein Labyrinth, so kam es ihr damals mit elf Jahren vor. Viele turmhohe Bücherregale aus dunkler Eiche. Sie fasste vertraut an die Lehne eines durchgesessenen und dadurch glänzig polierten Ledersessels. Der Geruch nach alten Büchern strich um ihre Nase. Es war nicht unangenehm. Sie setzte sich an den Tisch und fuhr langsam mit beiden Händen über das abgenutzte Holz.
Die ersten Zeilen
Hier schrieb sie den ersten Brief an ihrem Vater, der fünf Jahre zuvor aus ihrem Leben verschwunden war, und sich dann plötzlich wieder meldete. Hier schrieb sie ihre ersten Liebeszeilen. Sie verliebte sich in den Kusin ihrer besten Freundin und musste viel in einem Wörterbuch für Spanisch blättern, denn er sprach kein Englisch. „Javier“ , sie spürte noch die Aufregung und die Angst von damals: Wie würde er reagieren?
Eine Reise
Hier ging sie in den Bilderbändern auf Reisen. Ihre Mutter hatte kein Geld für eine Urlaubsreise, sie war alleinerziehend und musste viel arbeiten. Sie bemerkte oft nicht, ob Iris da war oder nicht. Iris ihre unscheinbare Tochter.
Hier entdeckte sie das geheimnisumwobene Land, wo ihre Mutter aufgewachsen war. Die Andamanen, eine Inselgruppe im indischen Ozean, ein Urwald und eine unberührte Paradies. Hier fand sie Inspiration bei Dickens für historische Aufsätze. Bis heute war „das Weihnachtslied“ ihre Lieblingsgeschichte in der Weihnachtszeit.
Und hier schrieb sie auch den einen oder anderen Satz für die Schularbeit ab. Es war fast nie aufgefallen. Damals musste man ein Buch in die Hand nehmen, um einen Satz zu finden. Hier lernte sie auf ihre Prüfungen. Und hier suchte ihre Freundin sie immer.
Ihr Wohlfühlort
Ja die Bücherei war dieser Ort.
Seit langem wohnte sie nicht mehr in Middleton und war danach viel umgezogen. Immer wenn sie wieder eine Wohnung bezog, schaute sie nach den Öffnungszeiten der Bücherei im Ort. Ob es eine Buchhandlung gab. Als Erstes packte sie ihre Bücher aus.
„Na gut“ sagte Dr. Lamotte, „Wir probieren wir es. Stellen Sie sich vor Sie sind in der Bücherei…“
Es breitete sich eine wohlige Wärme in ihr aus… zu Hause.